Unrechtsstaat

Nationalsozialistisches Deutschland: Der preußische Justizminister Hanns Kerrl bei der Besichtigung des Galgens mit daran aufgehängtem Paragraphenzeichen im Lager für Rechtsreferendare in Jüterbog. Links neben ihm der Lagerleiter Oberstaatsanwalt Christian Spieler und dessen Stellvertreter, SA-Sturmführer Heesch (August 1933).
Inhaltsverzeichnis
Begriffsursprung
Der Begriff wird auf den preußischen Katholiken Peter Reichensperger (1810–1892) zurückgeführt. Mit dem Begriff des Unrechtsstaates wollte Reichensperger andeuten, dass Preußen ein solcher würde, wenn es die Rechte seiner katholischen Untertanen beschneidet. In der 24. Sitzung der Zweiten Kammer des Preußischen Landtags am 12. Februar 1853 äußerte der Abgeordnete Reichensperger: „Ich denke, der Rechtsstaat besteht darin, dass der Obrigkeit das Schwert zum Schrecken der Bösen anvertraut ist, und zum Schutze derer, die in ihrem Recht sind, ihr Recht üben; einen Unrechtsstaat würde man dagegen meines Erachtens denjenigen zu nennen haben, welcher die Unruhestifter schützen und diejenigen bedrohen wollte, die in ihrem Rechte sind.“[4]Begriffsinhalt
Der ehemalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch (SPD) wandte den Begriff 1946 in seinem epochemachenden Aufsatz Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in dem er die Radbruch’sche Formel prägte, auf das NS-Regime an: Um „die Wiederkehr eines solchen Unrechtsstaates“ zu verhüten, müsse der materiellen Gerechtigkeit Vorrang vor dem positiven Recht eingeräumt werden, wenn dieses unerträglich ungerecht sei oder die Gleichheit aller Menschen bewusst verleugne.[5] In Nachfolge Radbruchs wurde der Begriff Unrechtsstaat dann lange zur Kennzeichnung des nationalsozialistischen Deutschlands benutzt.[6]Nach Ansicht von Horst Sendler ist es kennzeichnend für einen Unrechtsstaat, dass es daran fehlt, dass die Verwirklichung des Rechts angestrebt und im Großen und Ganzen erreicht wird.[7] Dabei machten einzelne Rechts- und Verfassungsverstöße einen Staat noch nicht zum Unrechtsstaat, da diese mitunter auch in Rechtsstaaten vorkommen.[7] Auch sei ein Staat nicht schon dann als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, wenn er nicht dem Modell des klassischen bürgerlichen Rechtsstaats und insbesondere nicht dem bundesdeutschen Rechtsstaatsbegriff entspricht.[8] Andererseits schließe der Begriff „Unrechtsstaat“ nicht aus, dass es in einem derartigen Staat auch Bereiche gibt, in denen Rechtsstaatlichkeit herrscht und Gerechtigkeit geübt wird.[9] Gerd Roellecke hält es demgegenüber für entscheidend, dass ein Unrechtsstaat nicht die Gleichheit aller Menschen voraussetze. Im Unterschied zu historischen „Nichtrechtsstaaten“ könnten Unrechtsstaaten nach dem Stande der historischen Entwicklung auch Rechtsstaaten sein.[10]
Verwendung in juristischen Texten
Im Remer-Prozess schloss sich das Gericht 1953 in seinem Urteil der Argumentation des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer an, „dass der Staat Hitlers nicht ein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat“ gewesen sei, gegen den Widerstand zu leisten als Notwehr gerechtfertigt sei.[11]„Die Strafkammer ist der Auffassung, daß der nationalsozialistische Staat kein Rechtsstaat, sondern ein Unrechtsstaat war, der nicht dem Wohle des deutschen Volkes diente. Dabei braucht hier auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit des NS-Staates nicht näher eingegangen zu werden. All das, was das deutsche Volk, angefangen vom Reichstagsbrand über den 30. Juli 1934 und den 9. November 1938 hat über sich ergehen lassen müssen, war schreiendes Unrecht, dessen Beseitigung geboten war. Es ist schwer, bitter und hart für ein deutsches Gericht, so etwas aussprechen zu müssen.“
– Urteil des Braunschweiger Landgerichts im März 1952[12]
Der Begriff „Unrechtsstaat“ wurde außerdem in einer Proklamation des Bundespräsidenten Heinrich Lübke aus dem Jahr 1963 verwendet, worin der 17. Juni zum nationalen Gedenktag erklärt wurde.[14] In abgewandelter Form als „Unrechts-Regime“ wird der Begriff in Art. 17
In der Rechtsprechung deutscher Gerichte werden sowohl das „Dritte Reich“[18] als auch die DDR[19] als Unrechtsstaat bezeichnet. Ein anderes Beispiel aus der Rechtsprechung ist Myanmar, das in einem Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe von 2008[20] „angesichts der seit Jahrzehnten andauernden Diktatur der Militärjunta“ als Unrechtsstaat charakterisiert wurde.
Verwendung in der Diskussion um die DDR
Historisch-politische Diskussion
Der Unrechtsstaatsbegriff spielt insbesondere in der historisch-politischen Diskussion um die Bewertung der Deutschen Demokratischen Republik bis zur Wende 1989/90 eine Rolle.[21] Bundespräsident Roman Herzog etwa erklärte am 26. März 1996 vor der Enquête-Kommission Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit über die DDR: „Sie war ein Unrechtsstaat.“[22] Ebenso äußerte sich im Jahr 2009 auch Bundeskanzlerin Angela Merkel.[23] Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk vertritt ebenfalls die These, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen. Dies begründet er mit dem Fehlen einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung: Die Justiz sei nie unabhängig von den politischen Vorgaben von Staat und Partei gewesen. Das Strafgesetzbuch der DDR habe zahlreiche politische Straftatsbestände gekannt wie staatsfeindliche Hetze, Staatsverleumdung, Zusammenrottung usw., was zu einer großen Zahl von politischen Gefangenen geführt habe. Diese hätten in der Mehrzahl einfach nur das Land verlassen wollen oder seien wegen Weitergabe unerwünschter Literatur wie George Orwells 1984 kriminalisiert worden:„Unrecht war strukturell und politisch bedingt, Recht blieb stets willkürlich.“[24]
In den Koalitionsgesprächen zur Regierungsbildung der neuen Landesregierung in Thüringen 2014 wurde die Anerkennung der Bezeichnung „Unrechtsstaat“ zur Voraussetzung der Fraktionen von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD, um mit der Linken eine Regierungskoalition zu bilden. Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Partei im Deutschen Bundestag, setzte sich im Nachhinein gegen die Bezeichnung ein.[28] Die Bundesvorsitzende Katja Kipping erklärte jedoch, dass sie „die Formulierung, die die Thüringer da gefunden haben in den Sondierungsgesprächen, vollkommen richtig“ fände.[29] Werner Schulz unterstrich in diesem Zusammenhang, dass das Unrecht in der DDR nicht von Einzeltätern verübt wurde, sondern organisiert war und der Herrschaft der SED diente.[30]
Der Brandenburger Generalstaatsanwalt Erardo Cristoforo Rautenberg bestreitet, dass der Begriff Unrechtsstaat, wie ihn in den 1950er Jahren Fritz Bauer definierte, auf die DDR anzuwenden sei.[13]
Juristischer Diskurs
Auch unter Juristen ist umstritten, inwieweit die DDR als Unrechtsstaat bezeichnet werden könne. Horst Sendler vertritt die Ansicht, die DDR sei „im Kern ein Unrechtsstaat“ gewesen, weil die Gesetze „nur Versatzstücke“ gewesen seien, die „bei Bedarf beiseitegeschoben werden“ konnten, wenn sie „der Staatsführung […] oder sonstigen zur Entscheidung befugten Organen“ nicht passten; die DDR habe „drastisch-salopp“ gesagt „aufs Recht gepfiffen“.[31] Demgegenüber meint Ingo Müller, dass genauso wenig der Unrechtsstaat an sich existiere wie ein Staat, der sich ein für allemal den Ehrentitel „Rechtsstaat“ erworben habe, sodass die einzelnen stattgefundenen Unrechtsakte jeweils für sich bewertet werden müssten.[1] Volkmar Schöneburg plädiert dafür, die Rechtsnormen sowohl im NS-Staat als auch in der DDR genau zu analysieren und nicht einfach durch die Kategorie „Unrechtsstaat“ zu ersetzen.[32]Das Bundesverfassungsgericht hatte gegenüber der DDR stets „eine vorsichtige und letztlich nichts präkludierende Entscheidungsstrategie befolgt: Man hat sich geweigert, die andere deutsche Republik als ,den Unrechtsstaat durch und durch‘ zu betrachten […].“[33]
Das Amtsgericht Tiergarten wies 2012 in einem Urteil gegen einen Stasi-Oberst dessen Behauptung zurück, bei der DDR habe es sich nicht um einen Unrechtsstaat gehandelt. „Aufgrund des gegenwärtigen Standes der Geschichtsforschung und der rechtskräftigen Verurteilung führender Persönlichkeiten der ehemaligen DDR steht fest, dass es sich bei der ehemaligen DDR um eine Gewalt- oder Willkürherrschaft gehandelt hat.“[34]
Siehe auch
Literatur
- Thomas Claer: Negative Staatlichkeit. Von der „Räuberbande“ zum „Unrechtsstaat“. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2003.
- Ingo Müller: Die DDR – ein Unrechtsstaat? In: Neue Justiz 1992, S. 281–283.
- Horst Sendler: Die DDR ein Unrechtsstaat – ja oder nein? In: Zeitschrift für Rechtspolitik 1993, S. 1–5.
- Horst Sendler: Der Rechtsstaat, Unrechtsstaat und anderes – Das Editorial der Herausgeber im Meinungsstreit. In: Neue Justiz 1991, S. 379 ff.
- Rudolf Wassermann: Wieviel Unrecht macht einen Staat zum Unrechtsstaat? In: Neue Juristische Wochenschrift, 1997, S. 2152 f.
- Friedrich Schorlemmer: Es gab Lücken in der Mauer
Weblinks
- Claus Christian Malzahn: Die Linke, gefangen im Unrechtsstaat DDR
- Stefan Reinecke: Debatte DDR und Linke: Der flatterhafte Unrechtsstaat
Einzelnachweise
- Ingo Müller, NJ 1992, S. 281 ff., 282.
- Sendler, ZRP 1993, 1 ff., 2.
- Wilhelm Rettler: Der strafrechtliche Schutz des sozialistischen Eigentums in der DDR (= Juristische Zeitgeschichte 3, 40). De Gruyter, Berlin/New York 2010, ISBN 978-3-11-024855-5, S. 183–184.
- Matthias Heine: Seit 1853 fürchten Staatsverbrecher dieses Wort.
- Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht. In: Süddeutsche Juristenzeitung, 1946, S. 105–108 (hier das Zitat) (online als PDF
- Siehe z. B. Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.): Der Unrechtsstaat. Recht und Justiz im Nationalsozialismus. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1979; Udo Reifner (Hrsg.): Das Recht des Unrechtsstaates. Arbeitsrecht und Staatswissenschaften im Faschismus. Campus, Frankfurt a.M./New York 1981; Günter Neliba: Wilhelm Frick: Der Legalist des Unrechtsstaates. Schöningh, Paderborn 1992.
- Sendler, ZRP 1993, 1 ff., 4.
- Sendler, ZRP 1993, S. 1 ff., 3.
- Sendler, NJ 1991, S. 379 ff., 380.
- Gerd Roellecke: War die DDR ein Unrechtsstaat?
- Claudia Fröhlich: «Wider die Tabuisierung des Ungehorsams». Fritz Bauers Widerstandsbegriff und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen, Campus, Frankfurt a.M./New York 2006, ISBN 978-3-593-37874-9, S. 99
- Vgl. Irmtrud Wojak: Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, 2., durchges. Aufl., C.H. Beck, München 2009, ISBN 978-3-406-58154-0, S. 276
- Erardo Cristoforo Rautenberg: Zu Haus unter Feinden, in: Die Zeit, Nr. 47 vom 13. November 2014, S. 17.
- BGBl. I 1963, 397.
- BGBl. I 1993, 392.
- Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Hg.): Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, Berichte und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Gießen vom 2. bis 5. Oktober 1991, ISBN 3-11-013580-9. Den Begriff „Unrechtsstaat“ verwenden verschiedene Autoren auf den Seiten 16, 99, 114, 118, 135 f., 153 f., 156, 159.
- Vgl. auch Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.): Der Unrechtsstaat, Frankfurt a.M. 1979; U. Reifner (Hrsg.): Das Recht des Unrechtsstaats, Frankfurt a.M./New York 1981.
- BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2004, Az.: 1 BvR 1804/03, BVerfGE 112, 93 ff., Rn 4.
- BGH, Beschluss vom 21. November 1994, Az.: AnwZ (B) 54/94, NJ 1995, 332 f., Rn 13.
- VG Karlsruhe, Urteil vom 16. Dezember 2008, Az.: A 11 K 1340/08
- Thomas Claer, War die DDR ein Unrechtsstaat?, in: Justament, Berlin, Oktober 2010 (online
- Deutschland Archiv 29 (1996) 3, S. 501; Wortlaut
- Kanzlerin Merkel rechnet mit DDR als „Unrechtsstaat“ ab.
- Ilko-Sascha Kowalczuk: Die 101 wichtigsten Fragen – DDR. C.H. Beck, München 2009 (= Beck’sche Reihe, Bd. 7020), S. 35
- Gesine Lötzsch: Unrechtsstaat.
- Letzter DDR-Ministerpräsident: Lothar de Maizière will DDR nicht als Unrechtsstaat bezeichnen
- Gesine Schwan: Diktatur: In der Falle des Totalitarismus.
- Mögliche Koalition in Thüringen Gysi: DDR war kein Unrechtsstaat
- Katja Kipping im Gespräch mit Gerhard Schröder
- Die Linke, gefangen im Unrechtsstaat DDR
- Sendler, NJ 1991, S. 379 ff., 380.
- Volkmar Schöneburg: Recht im nazifaschistischen und im „realsozialistischen“ deutschen Staat – Diskontinuitäten und Kontinuitäten, NJ 1992, S. 49 ff., 50.
- Vgl. Alexander Blankenagel, Verfassungsgerichtliche Vergangenheitsbewältigung, ZNR 1991, S. 80 m.w.N.; Walter Leisner, Das Bodenreform-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Kriegsfolge- und Eigentumsentscheidung, NJW 1991, S. 1569 ff., hier S. 1573; vgl. auch Kurt Kemper/Robert Lehner, Überprüfung rechtskräftiger Strafurteile der DDR, NJW 1991, S. 329 ff.
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